Unrechtmäßiger Ausschluss vom Stimmrecht: Sachsen-Anhalt setzt Verfassungsgerichtsurteil schon zur Kommunalwahl um
2. April 2019

Pähle: In einer inklusiven Demokratie geht es um weit mehr als nur um das Wahlrecht

Die SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Pähle hat in die heutige Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen für eine Änderung des Kommunalverfassungsgesetzes eingebracht. Mit diesem Gesetz soll bereits für die Kommunalwahlen am 26. Mai 2019 der bislang geltende Stimmrechtsausschluss von Bürgerinnen und Bürgern abgeschafft werden, die unter gesetzlicher Betreuung stehen. Ein ergänzender Entschließungsantrag soll den Zugang zur Wahl für Menschen mit Behinderungen weiter erleichtern. In einer inklusiven Demokratie geht es um weit mehr als nur um das Wahlrecht, sagte Pähle. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderungen die Chance haben zu erfahren, wie sie ihre Interessen selbst und zusammen mit anderen zu Gehör bringen können, sich organisieren und ihre Ziele durchsetzen können. Nicht als Gegenstand paternalistischer Zuwendung durch ‚Nichtbehinderte‘, sondern  als selbstbewusste Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

 


Die Rede im Wortlaut:

Gestatten Sie mir, dass ich ein etwas längeres Zitat an den Beginn meiner Ausführungen stelle, weil es schlicht und eindrucksvoll sagt, worum es heute geht. Es stammt aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die von Deutschland heute vor zehn Jahren und einer Woche, am 26. März 2009, ratifiziert wurde. Im Artikel 29 – Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben – heißt es: „Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen, und verpflichten sich, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, (…) was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden““.

Und weiter: „unter anderem stellen sie sicher, dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind“.

Ich denke, zehn Jahre nach der verbindlichen Annahme dieses internationalen Übereinkommens steht es uns gut an, bei der Umsetzung voranzuschreiten; eigentlich ist es schon viel zu spät. Dieses Voranschreiten wollen wir heute tun.

Am 29. Januar diesen Jahres hat das Bundesverfassungsgericht ein historisches Urteil gesprochen. Das Gericht hat aufgrund einer Verfassungsbeschwerde mehrerer Betroffener geurteilt, dass zwei Gruppen von Menschen bislang zu Unrecht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das sind zum einen Bürgerinnen und Bürger, für die „ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt wurde“. Zum anderen sind es Personen, die infolge Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.

Der Richterspruch betrifft uns auch als Land Sachsen-Anhalt, weil die erste Gruppe – die sogenannten „Vollbetreuten“ – auch durch unser Wahlgesetz und unser Kommunalverfassungsgesetz vom Wahlrecht zum Landtag und zu den kommunalen Vertretungen ausgeschlossen ist. Damit verstoßen auch wir in diesem Punkt gegen das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und müssen gesetzgeberisch tätig werden. Für die zweite Gruppe gibt es in Sachsen-Anhalt hingegen keinen Handlungsbedarf, weil sie nach Landesrecht schon bislang nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.

Wir machen Ihnen als Koalitionsfraktionen heute einen Vorschlag, mit dem wir schon zur Kommunalwahl am 26. Mai 2019 einen verfassungskonformen Zustand herstellen können – und damit geschätzten 2.500 Menschen in Sachsen-Anhalt das ermöglichen, was ihnen zusteht. Sie alle tragen mit Ihrer Teilnahme an dieser zusätzlichen Sitzung des Landtages dazu bei, dass wir dieses zeitlich sehr ehrgeizige Vorhaben stemmen können und das Gesetz so verabschieden, dass eine rechtzeitige und rechtssichere Ergänzung der Wählerverzeichnisse möglich ist.

Damit gelingt uns eine Lösung, die im Deutschen Bundestag für die Wahl des Europäischen Parlaments leider nicht rechtzeitig zustande kommt. Dass wir das hinbekommen, ist eine wirklich gute Sache.

Wir wollen aber noch einen deutlichen Schritt weiter gehen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Deshalb legen wir Ihnen ergänzend einen Entschließungsantrag vor, der sich mit weitergehenden Maßnahmen befasst.

Der erste Punkt dieses Antrages behandelt eine pure Selbstverständlichkeit, nämlich die Bitte an die Landesregierung, auch das Wahlgesetz entsprechend anzupassen, damit wir auch zur Landtagswahl ein verfassungskonformes Wahlrecht haben.

Danach wird es spannend, denn dann geht es darum, was wir tun können, um die vorhin zitierte Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention Wirklichkeit werden zu lassen, „dass die Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind“.

Es geht nämlich nicht nur ums Wahlrecht, sondern auch um die tatsächliche Möglichkeit zu wählen. Dafür ist noch viel zu tun, aber dafür können wir auch eine Menge tun.

Das betrifft zum einen den barrierefreien Zugang zum Wahllokal für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und dabei geht es ja nicht nur um Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, sondern auch um viele unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die im Alltag eine Gehhilfe brauchen und für die die Treppe zu einem alten Schulgebäude, in dem gewählt wird, schon eine unüberwindliche Hürde sein kann.

Mir ist klar, dass sich barrierefreie Wahllokale in jedem Ort und jedem Stadtteil nicht einfach verordnen lassen. Aber: Die Zahl barrierefrei ausgestalteter Räumlichkeiten nimmt, nicht zuletzt dank staatlicher Förderung, beständig zu. Ich denke, wir können von den Verantwortlichen in den Kommunen erwarten, dass sie alle Möglichkeiten ausschöpfen, die sich bieten, und die Zugänglichkeit zu den Wahllokalen immer weiter verbessern.

Unser Antrag schlägt weiter vor zu prüfen, wie man Informationen zur Wahl auch in einfacher Sprache und in Gebärdensprache zur Verfügung stellen kann.

Man muss gar keine Behinderung im klassischen Sinn haben, um an amtlichen Erläuterungen zu verzweifeln. Für viele Menschen ist der Text einer Wahlbenachrichtigung eine ebenso hohe Hürde wie die Treppe zum Wahllokal für die Rentnerin mit dem Rollator.

Das muss aber nicht so sein. Mit dem Einsatz einfacher Sprache sammeln auch immer mehr Behörden gute Erfahrungen. Auch im Kontext von Wahlen ist sie schon angewandt worden. Wir wollen uns anschauen, wie in anderen Ländern damit umgegangen wurde, und nach guten Lösungen auch für Sachsen-Anhalt suchen. Das gilt auch für den Einsatz von Gebärdensprache, wo das möglich und sinnvoll ist. Barrierefreie Webseiten von Wahlbehörden sollten ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein.

Und schließlich sollten wir auch die Möglichkeit nutzen, Stimmzettel übersichtlicher zu gestalten. Ein ganz wesentliches Element ist der Abdruck der Parteilogos auf den Stimmzetteln. Das klingt erst einmal ungewohnt, ist aber in vielen Ländern der Welt gängige Praxis, und in Bremen und Schleswig-Holstein ist es auch bereits eingeführt worden. In einer Welt, in der die Kommunikation über Symbole, Icons und Smileys selbstverständlich geworden ist und in der die Erkennbarkeit einer Marke einen millionenschweren Wert darstellt, ist ein Logo neben dem Namen der Partei auf dem Stimmzettel kein Systembruch, sondern einfach nur eine weitere kleine Hilfe. 

Darüber sollten wir jedenfalls ernsthaft diskutieren.

Wer in seiner Mobilität beeinträchtigt ist, wer blind ist, wer eine Leseschwäche hat oder auch nur Schwierigkeiten, Verwaltungssprache zu verstehen – der hat trotzdem alle Pflichten als Bürger und Steuerzahler. Dann sollten wir auch dafür sorgen, dass diese Bürgerinnen und Bürger alle Möglichkeiten haben, durch ihr Wahlrecht in unserem Staat mit zu entscheiden.

Heute ist ein guter Tag für die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen und für die Demokratie. Ich bin zuversichtlich, dass der Urteilsspruch aus Karlsruhe und die Entscheidungen, die wir jetzt in den Parlamenten treffen, Menschen zum eigenen Engagement ermutigen wird – über den engeren Kreis der „Vollbetreuten“ hinaus.

Die, die als Betroffene diesen Urteilsspruch erstritten haben, haben damit der Sache der Selbstorganisation von Menschen mit Behinderungen einen großen Dienst erwiesen. Im Landesverband meiner Partei in Sachsen-Anhalt gibt es nicht wenige, die auf das Ziel eines inklusiven Wahlrechts seit langem aktiv hinarbeiten und für die dieser Erfolg einen wichtigen Motivationsschub bedeutet.

In einer inklusiven Demokratie geht es um weit mehr als nur um das Wahlrecht. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderungen die Chance haben zu erfahren, wie sie ihre Interessen selbst und zusammen mit anderen zu Gehör bringen können, sich organisieren und ihre Ziele durchsetzen können. Nicht als Gegenstand paternalistischer Zuwendung durch „Nichtbehinderte“, sondern  als selbstbewusste Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

Es war eine gute Erfahrung zu erleben, wie die „Kenia-Koalition“ sich nicht nur konstruktiv, sondern auch schnell auf diesen Gesetzentwurf und auf den Entschließungsantrag verständigen konnte. Diese Erfahrung würde ich gerne häufiger machen.